Personenzentrierte Betreuung in der Alterspflege

Über Jahrzehnte hinweg hat sich die Philosophie der Alters- und Pflegeheime in der Schweiz grundlegend gewandelt. Von einer ursprünglich defizitorientierten Pauschalbehandlung hat sich der Fokus hin zu einer ganzheitlichen, personenzentrierten Betreuung (Personenzentrierte Pflege) verschoben, die die Wahrung der Individualität, Autonomie und Selbstbestimmung der Bewohner in den Mittelpunkt stellt.
Dieser Wandel ist von enormer Bedeutung, denn die steigende Lebenserwartung und die vielfältigeren Bedürfnisse einer alternden Bevölkerung erfordern einen Paradigmenwechsel in der Langzeitpflege. Statt einer pauschalen Versorgung müssen die Heime nun individuelle Lösungen für jeden Bewohner finden und deren Lebensqualität, Würde und Entfaltungsmöglichkeiten sicherstellen.
Herausforderungen auf dem Weg zur Personenzentrierten Betreuung
Doch der Weg zur flächendeckenden Umsetzung personenzentrierter Konzepte in Schweizer Pflegeheimen ist steinig. Eine Studie der Berner Fachhochschule aus dem Jahr 2015 ergab, dass von sechs untersuchten Dimensionen der Pflegequalität die Personenzentriertheit am schlechtesten bewertet wurde. Auch in einer Folgestudie änderte sich dieser unbefriedigende Wert kaum.
Die Gründe für diese Schwierigkeiten sind vielfältig. Zum einen müssen Leitungskräfte die Bedeutung personenzentrierter Pflege nicht nur verstehen, sondern auch aktiv vorleben und fördern. Zum anderen benötigt das Pflegepersonal spezifische Schulungen, um die nötigen Kompetenzen für einen respektvollen, individuellen Umgang mit den Bewohnern zu erwerben.
Führungskräfte als Schlüssel zum Erfolg
Eine zentrale Erkenntnis lautet daher: Personenzentrierte Betreuungskonzepte können nur dann erfolgreich implementiert werden, wenn die Führungskräfte des Pflegeheims diese Kultur auch im Umgang mit den Mitarbeitenden selbst vorleben.
Mitarbeiter müssen mit ihren individuellen Bedürfnissen und Fähigkeiten wahrgenommen, in Veränderungsprozesse eingebunden und von ihren Vorgesetzten begleitet und unterstützt werden. Bevor also neue personenzentrierte Pflegekonzepte eingeführt werden, muss zunächst geprüft werden, ob die entsprechende Kultur im Betrieb bereits gelebt wird. Ist dies nicht der Fall, gilt es zuerst, eine solche Kultur zu etablieren.
Der Weg zur Personenzentrierten Betreuung - Schritt für Schritt
Aus Studien und Experteninterviews lassen sich konkrete Führungsmassnahmen ableiten, die den erfolgreichen Wandel zu mehr Personenzentriertheit ermöglichen. Diese Schritte können Pflegeheimen als Fahrplan für die Einführung neuer Konzepte dienen:
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Fundament legen: Die physische Umgebung und Infrastruktur des Heims müssen die Voraussetzungen für personenzentrierte Pflege schaffen.
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Betriebskultur gestalten: Mittels Weiterbildungen, Coachings und dem Vorleben personenzentrierter Werte durch die Führungskräfte wird eine neue Betriebskultur etabliert.
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Mitarbeiter einbinden: Das gesamte Personal wird in Veränderungsprozesse eingebunden, ihre Kompetenzen und Bedürfnisse werden berücksichtigt.
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Konzepte entwickeln: Unter Einbeziehung aller Beteiligten werden massgeschneiderte, personenzentrierte Betreuungskonzepte entwickelt.
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Umsetzen und evaluieren: Die neuen Konzepte werden Schritt für Schritt umgesetzt und regelmässig auf ihre Wirksamkeit überprüft.
Zwar ist dieser Wandel eine Herausforderung, doch die Früchte der personenzentrierten Pflege sind immens: Eine Stärkung der Würde und Autonomie pflegebedürftiger Menschen sowie eine höhere Arbeitszufriedenheit der Mitarbeiter. Der Schlüssel liegt in einer konsequenten Neuausrichtung der Betriebskultur.
Praxisbeispiele aus der Schweiz
In der Schweiz gibt es bereits einige Leuchttürme, die den Weg zur personenzentrierten Langzeitpflege beschritten haben und als Vorbild dienen können.
Umsetzung des "Lean Care Center©" Konzepts
Die Stiftung Blumenrain hat das Konzept "Lean Care Center©" entwickelt, bei dem die Anliegen und Bedürfnisse der Bewohner konsequent in den Mittelpunkt gestellt werden. Nach einem erfolgreichen Pilotprojekt wurde das Prinzip in mehreren Heimen der Stiftung umgesetzt. Effizienter gestaltete Prozesse und die Integration von Elementen aus dem Lean Management wie Huddle- und Kaizenboards haben zu einer Verbesserung der Servicequalität bei gleichzeitiger Effizienzsteigerung geführt.
Kontinuierliche Verbesserungsprozesse im Zentrum Schlossmatt
Das Zentrum Schlossmatt in Olten verfolgt ebenfalls einen Lean Management-Ansatz, bei dem alle Mitarbeiter in Verbesserungsprozesse eingebunden sind. Mittels gezielter Massnahmen wird die für die direkte Bewohnerbetreuung aufgewendete Zeit maximiert. Neben der Optimierung von Abläufen stehen auch Infrastrukturverbesserungen und der Einsatz effizienter IT-Lösungen im Fokus - stets mit dem Ziel, die Bewohner bestmöglich und personenzentriert zu versorgen.
CURAVIVA Weiterbildungen zur Demenzbetreuung
Der Verband CURAVIVA bietet Inhouse-Weiterbildungen zur personenzentrierten Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz an. Neben der Förderung individueller Kompetenzen der Mitarbeiter zielt diese Massnahme auf den Aufbau einer gemeinsamen, personenzentrierten Kultur in der jeweiligen Institution ab. Durch massgeschneiderte Inhalte, erfahrene Lehrbeauftragte und die Integration von Praxisaufträgen wird ein nachhaltiger Lerntransfer in den Pflegealltag gewährleistet.
Diese und weitere Best-Practice-Beispiele zeigen, dass der Weg zur personenzentrierten Langzeitpflege zwar anspruchsvoll, aber machbar ist. Mit Ausdauer, Weitsicht und dem richtigen Kulturwandel können Heime die Lebensqualität ihrer Bewohner spürbar verbessern.
Interprofessionelle Zusammenarbeit als Erfolgsfaktor
Ein oft übersehener, aber wichtiger Aspekt der Personenzentrierten Pflege ist die interprofessionelle Zusammenarbeit aller Beteiligten. Denn nur wenn Pflegekräfte, Ärzte, Therapeuten und weitere Disziplinen Hand in Hand arbeiten, kann eine ganzheitliche, auf den individuellen Bewohner ausgerichtete Versorgung gelingen.
Leider mangelt es in der Praxis häufig an dieser Vernetzung der Berufsgruppen. Hier ist ein Umdenken auf allen Ebenen erforderlich - angefangen bei der Aus- und Weiterbildung der Fachkräfte.
Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) hat die Bedeutung der interprofessionellen Zusammenarbeit erkannt und fördert entsprechende Projekte und Initiativen. So soll die Effizienz und Qualität der Gesundheitsversorgung in der Schweiz weiter gesteigert werden - zu Gunsten der Patienten und Bewohner.
Perspektiven der Personenzentrierten Betreuung
Die personenzentrierte Langzeitpflege ist kein kurzfristiger Trend, sondern ein langfristiges Ziel, dem sich die Schweizer Heime kontinuierlich annähern müssen. Denn die Anforderungen an eine menschenwürdige, individuelle Betreuung werden mit der wachsenden Langlebigkeit und dem demografischen Wandel weiter zunehmen.
Umso wichtiger ist es, die eingeleiteten Schritte fortzusetzen und zu intensivieren. Neben der Weiterbildung des Personals und einer konsequenten Neuausrichtung der Betriebskultur ist auch die rechtliche Verankerung personenzentrierter Prinzipien ein zentrales Anliegen. Nur so kann die Würde und Selbstbestimmung pflegebedürftiger Menschen dauerhaft gesichert werden.
Aus Sicht des Personals bringt diese Entwicklung ebenfalls Vorteile: Mitarbeiter, die personenzentrierte Werte verinnerlichen und danach handeln, erleben ihre Arbeit als sinnstiftender und können eine höhere Arbeitszufriedenheit entwickeln.
Letztlich profitiert die gesamte Gesellschaft von einer personenzentrierten Ausrichtung der Langzeitpflege. Denn nur wenn wir Alten und Pflegebedürftigen die gebührende Achtung und Wertschätzung entgegenbringen, können wir eine Kultur der Menschlichkeit und Fürsorge aufrechterhalten.